Vergesst die Schule!

Als es an der Zeit war, meinem Stiefsohn den korrekten Umgang mit Messer und Gabel beizubringen, meinte er kühl: „Das muss ich nicht können. Ich will wie meine Mama nur mit den Händen essen!“. Das tat seine aus Rajasthan stammende Mutter - wie in ihrer Heimat üblich - tatsächlich manchmal und er hatte eigentlich auch völlig recht: mit den Händen zu essen ist nachgewiesenermassen klar gesünder, da es - aus wohl noch nicht gänzlich erforschten tiefenpsychologischen Gründen - viel befriedigender ist und man deshalb kaum je zuviel isst.

Ich habe ihm dann aber die Kunst der Verwendung westlicher Essinstrumente trotzdem eingepaukt. Ihm hat das überhaupt keinen Spass gemacht und ich habe es auch aus tiefster Seele gehasst. Jeden Tag. Wenn ich ganz ehrlich bin mit mir: es war ein unerträglich langwieriger Akt deprimierender Gewalt.

Warum dann die ganze Qual?

Weil ich wusste, dass unsere Gesellschaft Menschen, die während dem Galadiner (oder auch nur dem ersten Lunch mit dem zukünftigen Chef) das Wienerschnitzel mit den Händen zum Mund führen, unbarmherzig bestraft. Dass wegen solchen „Defiziten“ (?) eigentlich wichtige Türen oft verschlossen bleiben und Lebensträume daran scheitern können.
Und ich wollte, dass er später einmal die Wahl haben soll, ob er sich auf Galadiners herumtreiben will (oder - so wie ich - eher nicht).

Wir wollen unsere Kinder gut vorbereiten auf die Welt, die da draussen auf sie wartet. Also die Welt, so wie sie eben ist und nicht so wie wir sie uns erträumen. Und wer das verwechselt begeht m.E. einen gravierenden elterlichen Kunstfehler.

So traurig es ist: wir müssen unseren Kindern beibringen, wie sie sich in unserer Ellbogengesellschaft einen einigermassen erträglichen Platz „erellbögeln“ können. Unsere Gesellschaft ist halt nunmal sorgfältig so konstruiert, dass Menschen, die das nicht so gut können, untergehen.

Ja, das muss sich ändern. Was mich aber zunehmend irritiert (bzw. sogar verärgert): die grosse Anzahl von Menschen, die das über eine Reform der Schule erreichen wollen. Klar: wer die Schule kontrolliert, kontrolliert die Zukunft der Gesellschaft. Das haben Politiker aller Couleur schon vor Jahrzehnten erkannt.

Verständlicherweise wollen aber nur wenige Eltern ihre Kinder für solche Experimente opfern. Eltern wissen, was letztlich Überlebenswert hat. Mit welchen Skills man heute (und vermutlich auch morgen) einen Lebensunterhalt verdienen kann, der es ermöglicht, irgendwann eine Familie zu gründen. Schon seit Jahren ist das halt eher Mathe und Informatik als Tanzen und Zeichnen. Sind wir doch ehrlich: was die Kinder wirklich interessiert, ist heute leider ziemlich irrelevant.
Und besser wird das auf unserem aktuellen Pfad nicht werden: so wie es derzeit aussieht, bleibt da in naher Zukunft wohl nur noch „Roboter konstruieren“ übrig.
Ich habe schmerzhaft (d.h. in der eigenen Brieftasche) lernen müssen, dass nur ein ganz kleiner Teil der Bevölkerung meine Begeisterung für dieses Fachgebiet teilt. Nicht alle von uns sind Tech-Nerds (zum Glück).
Wollen wir nun alle Kinder trotzdem dazu zwingen KI-Ingenieure zu werden?

Vielleicht sollten wir aufhören über die Schule zu streiten. Die endlosen Grabenkriege darüber, wieviel „Schnäbi“ man im Biologiebuch zeigen darf, bleiben lassen.
Statt den Kampf um die Zukunft auf dem Rücken unserer Kinder auszutragen, sollten wir endlich die Ärmel hochkrempeln und anfangen, eine zumindest halbwegs vernünftige Gesellschaft zu gestalten.

Nein, es sind nicht die Kinder, die das morgen machen sollen. Wir sind es, die mündigen, gebildeten und erfahrenen, die das heute machen müssen.

Für unsere Kinder.

Mit etwas Glück brauchen wir dann gar keine Schule mehr.


Bild: Dmitriy / Pixabay


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