Brief an X

Liebe X.

Ich wollte dir eigentlich schon vor einigen Monaten einmal von meinen Erfahrungen mit Depressionen erzählen. Du wolltest mich aber nicht treffen, was völlig OK ist. Ich schreibe daher nun einige Gedanken auf und hoffe, dass du etwas Zeit und Neugier findest, diesen Text zu lesen. Ich werde ihn auch - natürlich ohne deinen Namen zu erwähnen - auf meinem Blog publizieren. Dies deshalb, weil ich mir vorstellen kann, dass meine Überlegungen auch für andere Menschen mit Depressionen hilfreich sein könnten.

Zuerst möchte ich kurz erzählen, wie ich überhaupt zu meinen Depressionen gekommen bin. Es begann 1992: Meine Mutter hatte damals aus verschiedenen Gründen (die für meine eigene Geschichte keine besondere Rolle spielen) beschlossen, sich das Leben zu nehmen. Unter unglücklichen Umständen, die ich hier auch nicht genauer erörtern möchte, kam es schliesslich dazu, dass ich ihren Suizid direkt miterleben musste. Meine Erwartung damals war natürlich, dass diese Erfahrung ausserordentlich schmerzhaft für mich sein würde. Stattdessen passierte eigentlich zuerst einmal gar nichts. Ich konnte weder traurig sein, noch fühlte ich Schmerz. Ich bekam zwar für einige Tage sehr hohes Fieber, aber sonst geschah mit mir kaum Erwähnenswertes. Ich war damals eher beruhigt, erlaubte mir dies doch im Alltag weiter normal zu funktionieren. Ich setzte mein Studium fort und auch sonst lebte ich mehr oder weniger so weiter wie zuvor. Nach einigen Wochen bemerkte ich jedoch, dass sich etwas verändert hatte: Ich konnte mich nicht mehr freuen, hatte immer grössere Probleme mit dem Schlaf und der Konzentration, mein Geruchssinn funktionierte nur noch schlecht und bald darauf quälten mich diverse vorher unbekannte Ängste. Es folgten einige sehr schwierige Jahre, über welche ich eigentlich nicht viel erzählen möchte. Interessant scheinen mir eher meine Erfahrungen und Einsichten, die es mir einige Zeit später ermöglicht haben, aus diesem Zustand herauszufinden.

Ich glaube heute, dass sich Depressionen mit einem natürlichen Schutzmechanismus der Psyche (oder des Gehirns, wenn du willst) erklären lassen. Gerade in Fällen wie dem meinen (d.h. bei einem massiven psychischen Trauma) macht es vermutlich durchaus Sinn, das Erleben des Schmerzes zuerst einmal zu unterdrücken. Ich hätte mich ohne diesen Effekt vermutlich vor einen Zug gestürzt oder einfach völlig den Halt in meinem Leben verloren. Ich hätte sehr wahrscheinlich versucht, den Schmerz mit Drogen (in meinem Fall wohl Alkohol) zu bekämpfen. Das hätte mich vielleicht ebenfalls das Leben gekostet. Es handelt sich aber vermutlich um einen Mechanismus, der nur im äussersten Notfall ausgelöst wird. Es braucht deshalb wohl ziemlich viel, bis er das erste mal aktiviert wird. Aber wenn die „Schutzscheibe“ vor dem entsprechenden Schalter im Gehirn einmal eingeschlagen ist, liegt der Schalter frei zugänglich da und das Gehirn scheint in Versuchung zu geraten, ihn immer wieder zu betätigen.

Der Mechanismus kann ja auch erstaunliches leisten: er kann uns vor einer wichtigen Art von Schmerzen befreien. Wäre es nicht wunderbar, keine Schmerzen mehr empfinden zu müssen sondern nur noch Freude? Leider, und das ist der wesentliche Punkt, funktioniert der Schalter nicht selektiv: er dämpft oder blockiert sämtliche Emotionen. Also nicht nur die schmerzhaften sondern auch die angenehmen, z.B. eben die Freude. Für mich war es ganz wesentlich zu verstehen, dass letztlich ich derjenige bin, der diesen Schalter immer wieder umlegt. Das war nicht einfach einzusehen, denn es handelt sich natürlich um einen unbewussten Vorgang. Das heisst, ich tat es nicht willentlich, es passierte mir irgendwie einfach.

Die Depression ist also nicht etwas, das mich irgendwie von Aussen befällt (wie z.B. eine Grippe), sondern letztlich das Resultat meiner unbewussten Versuche, den Schmerzen des Lebens auszuweichen. Und dies führte mich irgendwann zur Einsicht, dass ich eine grundsätzliche Entscheidung treffen musste: will ich das Leben (mit allem was dazugehört, also auch dem Schmerz) oder lieber doch nicht? Mir war eigentlich bald klar, dass ich intensiv leben wollte. Das „Leben“ mit Depressionen, welches ein seltsamer „zombiehafter“ Daseinszustand ist, in dem man oft mehr tot als lebendig durch die Welt wandelt, war keine Alternative für mich (und der „richtige“ Tod schon gar nicht).

Es dauerte dann aber noch einige Zeit, bis ich lernen durfte, wie ich meine Depression effektiv bekämpfen konnte (bzw. - weil es sich eben nicht um einen äusseren „Feind“ handelt - zu lernen, wie ich aufhören konnte, sie selber zu erzeugen). Für mich war der Schmerz der Schlüssel zur Lösung des Problems. Ich habe irgendwann angefangen, den Schmerz zu suchen. Dazu habe ich immer wieder versucht, tief in mich hineinzuhorchen und den Schmerz zu finden und deutlich zu fühlen. Das geht nur in einem aktiven Prozess, weil wir normalerweise stets versuchen, Schmerzen zu minimieren. Um meinen Depression zu begegnen, musste ich aber genau das Gegenteil davon tun: immer wieder versuchen, den Schmerz stark und klar zu fühlen. Immer dann, wenn die Depression anfing zu wirken (sie konnte bei mir sehr plötzlich auftreten: ich versank manchmal innert weniger Minuten darin), versuchte ich den Grund dafür zu finden. „Den Grund für die Depression finden“ bedeutete dabei, zuerst zu versuchen, den Schmerz zu fühlen (auch wenn er oft nur noch ganz schwach wahrnehmbar war) und dann herauszufinden, was diesen Schmerz verursachte. Wenn man den Schmerz willkommen heisst, dann wird er zum Glück auch schnell deutlicher fühlbar. Und damit wird es auch einfacher den Schmerz zu verstehen.

Es gibt so viele verschiedene Quellen von psychischen Schmerzen, dass es oft nicht einfach ist zu verstehen, was genau die Schmerzen auslöst. Ursachen können z.B. Enttäuschungen über sich selbst oder andere sein. Oder vielleicht auch über die Welt im Allgemeinen. Was soll man dann machen mit dem Schmerz? Das ist aber gerade die eigentliche Funktion des Schmerzes, dass er den Weg zu einer Lösung weist und eine solche längerfristig sogar erzwingt. Wichtig ist also, dass man den Schmerz stets fühlen kann. Nur dann ist man in der Lage, die richtigen Schritte zu unternehmen, welche irgendwann dazu führen, dass der Schmerz wegfallen kann. Es ist also in diesem Sinne schon OK, etwas gegen die Schmerzen zu unternehmen. Aber eben nicht auf der Ebene der Wahrnehmung sondern auf der Ebene der Ursachen. Das ist ein fundamentaler Unterschied! Man muss lernen, den Schmerz als einen Lotsen zu verstehen, der einem den Weg weist. Er ist also kein zu bekämpfendes Übel, sondern hat eine überaus wichtige Funktion.

Natürlich ist der Schmerz manchmal auch lästig. Er macht uns verwundbar und zwingt uns zu Entscheidungen, die oft auch unangenehme oder anstrengende Konsequenzen haben. Wir wären oft lieber „cool“ und gleichgültig, das bringt uns weniger Probleme. Ja, das stimmt. Aber man empfindet dann eben auch keine Freude, ist nicht neugierig, hat keine Lust auf das Leben und kann nicht mehr lachen. Natürlich wäre es angenehmer, wenn wir z.B. beim Anblick eines hungernden Kindes in der Zeitung nichts empfinden würden. Wenn wir den Schmerz zulassen, zwingt uns das, etwas gegen ihn zu unternehmen. Wir spenden dann vielleicht etwas Geld. Oder wir fangen sogar selber an, in einer Hilfsorganisation tätig zu werden. Das kostet natürlich Energie und man könnte argumentieren, dass es besser wäre, das Geld für sich selbst zu sparen oder eine bequeme und gut bezahlte Karriere in einer Bank anzustreben. Ich bin aber überzeugt, dass Menschen, die ihren Schmerz stark spüren, intensiver und erfüllter leben als diejenigen, die ihn unterdrücken. Und natürlich wäre es auch für die Gesellschaft als Ganzes vorteilhaft, wenn mehr Menschen aus ihrem Schmerz etwas produktives für die Allgemeinheit schöpfen könnten. Der Schmerz macht uns natürlich auch etwas „schwieriger“ für andere, weil er uns zwingt, mit unseren Mitmenschen zu interagieren (z.B. indem wir ein Unbehagen äussern oder ein Problem ansprechen). Aber ich finde, wir erlauben es uns viel zu selten „schwierig“ zu sein. Wenn wir andere Menschen herausfordern ist dies oft eine Chance für alle Beteiligten.

Aber ist es vielleicht nicht berechtigt, Angst vor dem Schmerz zu haben? Können Schmerzen nicht so stark werden, dass sie kaum auszuhalten sind? Ich möchte dir dazu eine Geschichte erzählen. Vor vielen Jahren segelte ich als Teil einer kleinen Crew durch den Südpazifik. Wir waren noch viele Seemeilen von West-Samoa entfernt, als wir in einen schweren Sturm gerieten. Am vierten Tag des Unwetters, wir waren alle schon äusserst müde von der Arbeit an Deck und dem vielen Schlafentzug, merkten wir mitten in der Nacht, dass eine grössere Menge Diesel aus einem Leck im Treibstofftank ausgelaufen und ins Innere geraten war. Unser Skipper entschied, dass das Schiff sofort gereinigt werden müsse, um gefährliche Schäden zu verhindern. Meine beiden jungen Mitsegler und ich sind dann sofort unter Deck gestiegen um mit der Arbeit zu beginnen, während der Skipper am Ruder das Boot einigermassen auf Kurs zu halten versuchte. Da man unter diesen Umständen (Sturm, Dieselgeruch) unter Deck fast sofort seekrank wird, haben wir uns zuerst einmal alle gründlich übergeben. Man muss sich unsere Situation etwa so vorstellen: wir waren bei grosser Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit in einer sich drehenden Waschmaschinentrommel gefangen, die mit stinkendem Dieselöl und Erbrochenem gefüllt war und sollten dabei auch noch hart arbeiten. Mein erster Gedanke war: wie soll es mir gelingen, die folgenden Stunden psychisch zu überleben? Wir waren alle völlig verzweifelt. Da hatte der Erfahrenste von uns zum Glück eine geniale Idee: er legte ein Tape in den Kassettenrekorder ein und drehte die Lautstärke ganz laut auf. Und wir sangen laut mit: Zu Bob Marley’s „there is so much trouble in the world“ sangen wir „we have so much diesel in the bilge“ und arbeiteten dabei wie die Besessenen. Und dabei konnten wir viel lachen. Das hat uns zweifellos gerettet! Einen Tag später erreichten wir eine geschützte Bucht im paradiesischen Samoa und wir konnten uns endlich erholen.

Was ich mit dieser Geschichte aufzeigen will: auch in der dunkelsten Finsternis kann man ein Licht anzünden. Aber dazu muss man erst einmal merken, dass es dunkel ist und dann auch verstehen warum es dunkel ist.

Auch mein Motor hinter diesem Text ist letztlich Schmerz (ich kann mir vorstellen, wie schwer es für deine Eltern sein muss, dich so zu erleben). Und das ist gut so, denn wenn ich den Schmerz nicht fühlen könnte, dann hätte ich ihn nie geschrieben. Ich hoffe diese Zeilen helfen dir. Natürlich spiegeln sie nur meine eigenen Erfahrung wieder. Bei dir ist vielleicht einiges (oder sogar alles) anders. Und natürlich bin ich auch kein Psychologe oder Psychiater, so dass du meine Ausführungen mit etwas Vorsicht geniessen solltest.

Ich wünsche dir viel Glück, Kraft und dass dich stets starke Gefühle auf deinem Weg leiten werden. Und denke daran: dein Schmerz ist ein wichtiger und ehrlicher Ratgeber, ein guter Freund. Höre ihm gut zu, es lohnt sich!

Herzliche Grüsse

Marco

Image: Shutterstock / Oskari Porkka


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